Auf einem Zettel steht geschrieben: „Ich schaue mir kurz die andere Seite an. – Bin bald wieder zurück.“ Es ist die Zeit der Friedlichen Revolution in Deutschland. In Berlin wird am 9. November 1989 die Mauer gestürmt; die Grenze wird wieder frei passierbar. Viele DDR-Bürger nutzen die Chance, um den Westteil der Stadt zu besuchen. Freudenszenen spielen sich ab. Aber der Mauerfall hatte auch Schattenseiten. Einige Eltern, die in diesen Tagen spontan und ohne ihre Kinder ihr Zuhause verließen, um einmal kurz „Westluft“ zu schnuppern, kamen nicht unmittelbar wieder zurück. Oder gar nicht.
Es sind diese unerforschten Tragödien, die sich Ken Sudermann, Hannah Gewohn und Catherina Sax aus der Jahrgangsstufe 1 zum Thema ihres Beitrags für den Wettbewerb „Umbruchszeiten. Deutschland im Wandel seit der Einheit“ der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (Berlin) gemacht haben. In einem 12-minütigen Film beschäftigen sie sich mit den „Verlassenen Kindern der DDR“.
„Unser Ziel war es, diesen Teil unserer deutschen Geschichte besser zu beleuchten. Wir wollten mehr über die Betroffenen erfahren; sie zu ihrer Vergangenheit befragen.“ Aber die Suche nach den Menschen gestaltete sich schwierig.“, sagt Ken. „Wir haben DDR-Zeitzeugen-Portale durchforstet, Kinderheime angerufen und in Bibliotheken recherchiert.“ Immer klarer zeichnete sich ab, dass dieses Phänomen der Wende-Zeit weitgehend unerforscht geblieben ist. Bis auf wenige Zeitungsartikel fanden die Schüler*innen keine Veröffentlichungen über diese Fälle, von denen manche behaupten, es gäbe tausende davon. „Wir vermuten, dass Scham und Sorge vor Stigmatisierung Gründe für die Zurückhaltung der Betroffenen sein könnten.“, ergänzt Hannah. „Vielleicht kam es auch zu späteren Familienzusammenführungen. Aber auch das wissen wir nicht.“
Eine Reportage von Spiegel-TV wurde Ken, Hannah und Catharina zu einer wichtigen Quelle. Darin wird deutlich, dass die betroffenen Kinder traumatische Erfahrungen erlitten. Eine alleinerziehende Mutter hatte ihre drei Söhne tagelang alleine gelassen. Die verstörten Kinder bedurften psychotherapeutischer Betreuung. Andere Kinder, deren Eltern gar nicht mehr zurückkehrten, mussten schließlich in Heimen untergebracht werden.
Die Wettbewerbs-Jury lobte den empathischen und emotionalen Zugang des Films zu diesem Thema. Das unterstreicht auch das Lied „Jahre des Wartens“, das Ken, Hannah und Catherina eigens für den Beitrag geschrieben und mit Catherina als Sängerin und Gitarristin eingespielt hatten.
Die Preisverleihung fand übrigens über eine YouTube-Live-Schaltung aus dem Berliner Sitz der Bundesstiftung für die Aufarbeitung der SED-Diktatur statt, die MrWissen2go, Mirko Drotschmann, moderierte. Viel lieber wären Ken, Hannah und Catherina allerdings persönlich nach Berlin gefahren, um den Gutschein über 1.500 Euro in Empfang zu nehmen.
Jörg Hainer
Die drei Preisträger
